Gue Schmidt Hans Heinz Holz
HANS HEINZ HOLZ
BEMERKUNGEN UEBER HOEREN UND SEHEN

1. Begegnung der Sinne
Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu - nichts ist im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist, proklamierte John Locke. Und wenn auch Gottfried Wilhelm Leibniz mit Recht dagegen einwandte: nisi intellectus ipse - ausser der Intellekt selbst, so bleibt doch von Lockes Dictum bestehen, dass das Material, aus dem der Intellekt selektiv die Welt formt, wie wir sie auffassen, von den Sinnen geliefert wird. Allerdings auch nicht das ganze Material, denn schon die Sinne selektionieren, was sie vom Weltstoff aufnehmen; nicht alles, was es gibt, erregt die sinnliche Wahrnehmung; wir hören keinen Ultraschall und sehen kein Infrarot. Was wir gegenständlich erkennen wollen, müssen wir in Wahrnehmbares überführen – dem dient eine elaborierte Technik naturwissenschaftlicher Experimentalgeräte.
Auch gliedern die Sinne unsere Wahrnehmungswelt in Bereiche ihrer physiologischen Kompetenz: Tastbares, Hörbares, Sehbares usw. Unsere Wahrnehmung ist dadurch vorprogrammiert. Allerdings fügen sich Sinneseindrücke zusammen und können sich überlagern. Man spricht von Synästhesien. Wenn der Orchesterleiter dirigiert, sehen wir die Bewegung der Stabführung und hören die Töne; das optische und das akustische Feld kommen zur Deckung. Helmuth Plessner lässt den menschlichen Geist aus der im Leib wirklich werdenden Einheit der Sinne hervorgehen. „Die gesamte Mannigfaltigkeit des überhaupt Möglichen, das heisst Sinnvollen, bildet ein System, das sich mit dem System der Sinnesmodalitäten in der bestimmt angegeben Art deckt. In den Sinnesqualitäten haben wir die Anwendungsweisen geistiger Sinngebung auf Materie, die Verbindungsweisen von Geist und Körperleib erkannt”.(1)
In den Künsten artikulieren sich die Bereiche und zeigen sich paradigmatisch in ihrer je eigenen Art. In der Idee des Gesamtkunstwerks werden sie wieder zusammengeführt - ein sozusagen metaphysischer Entwurf der Sinneinheit des Seins. Dass diese Idee in Richard Wagners neudeutscher Pathetik ihren Siegeszug antrat und den Kunstbastard von Bayreuth hervorbrachte, spricht nicht eo ipso gegen sie.(2) Die Konzentration der Leistungen der Sinnesbereiche in den Künsten als gleichsam normatives Optimum ihrer welterschliessenden Funktion tendiert notwendig zu einer Konvergenz der Perspektiven.
Unter den Sinnesorganen sind zwei besonders ausgezeichnet: Auge und Ohr.
Sie nennt man „Fernsinne”, weil sie keine unmittelbare körperliche Berührung mit dem wahrgenommenen Gegenstand haben, wie Tasten und Schmecken (das allerdings im Riechen über den Kontakt hinausreicht). Nur durch die Fernsinne ist uns „Welt” gegeben, sie schaffen die Ordnung des Raums als Beziehung von Wahrnehmungsinhalten, Dingen oder Tönen mit ihren jeweiligen Eigenschaften, und es ist kein Zufall, dass die Psychologen an Dingen und Tönen den Gestalt-Begriff gewonnen und entwickelt haben. Körperformen und Tonfolgen zeigen uns eine Ordnung der Elemente, aus denen sie gebildet sind, ihre Einheit ist eine Synthesis, deren Ganzheit sich analytisch als ein Additions- und Integrationsvorgang erfassen lässt und unserer Verstandstätigkeit analog ist. Visuelle und akustische Gegebenheiten sind begrifflich rekonstruierbar. Die Rekonstruktion von Strukturen der Wirklichkeit, sodass einem Sachverhalt höchste Wahrnehmungsintensität gegeben wird, ist das Wesen der Kunst. Das macht die ontologische Bedeutung des Kunstwerkes aus.(3)

Ich sage ontologisch. Das heisst: Die Sinne und die ihnen entsprechenden Kunstgattungen geben nicht die Dinge an sich, sondern den Logos der Dinge (logos tôn ontôn), unser Verhältnis zu ihnen, in dem sie sich zeigen. Sie zeigen sich durchaus als das, was sie sind, aber in der Perspektive, in der wir sie von unserem Standort (point de vue) aus erblicken. Diese Standortgebundenheit bestimmt unser Verhältnis zu ihnen - aus Dingen an sich wird für uns ein Sachverhalt. Dieser hat eine Bedeutung für uns, die Bedeutungen schliessen sich zu einem Sinn zusammen. Da alle Menschen eine gemeinsame Welt haben, wie Heraklit sagt (B 89), ist das, was für einen Menschen bedeutungsvoll ist, auch für die anderen (obschon in anderer Hinsicht) bedeutungsvoll. Darin besteht die Überindividualität des Kunstwerks. Die Bedeutung, die das im Werk Gestaltete für den Künstler hat, erschliesst dem Betrachter Bedeutungen von Sachverhalten, die ihm sonst nicht bewusst geworden wären. Das Kunstwerk erweitert seinen Horizont. Indem er die Differenz zwischen seinen eigenen Wahrnehmungen und der Wahrnehmung des Künstlers bedenkt, wird das Kunstwerk zum Medium der Reflexion.
Im Werk reflektiert der Künstler seine Welterfahrung, am Werk reflektiert der Betrachter die Subjekt- und Standortbezogenheit jeder Welterfahrung.
Ein Werk der Bildkunst oder ein Werk der Musik erwecken Einsichten, die sich auf die Gegenstandsregion beziehen, die von den Sinnen jeweils aufgefasst wird. Ludwig van Beethovens „Pastorale” evoziert andere Sinngehalte in uns als Sandro Botticellis „Primavera”, obwohl wir beide zueinander doch motivisch in Beziehung setzen können. Gerade an der Konfrontation themenverwandter Werke aus verschiedenen Gattungen ist die Problematik „geistiger Sinngebung” mittels andersartiger Sinneseindrücke einleuchtend zu machen.
Wenn das, was „in intellectu” ist, zuvor „in sensibus” (Plural !) gewesen ist, dann müssen die Sprachen der Sinne doch auch ineinander übersetzbar sein. Was haben die Jahreszeiten-Bilder von Johannes Itten mit den „Vier Jahreszeiten” von Antonio Vivaldi zu tun?

Bildhaftes in Klängen fortschwingen zu lassen – davon haben Maler oft geträumt. Kandinskys erste gegenstandslose Kompositionen, reine Farbimpressionen, sind von musikalischen Assoziationen inspiriert. Die Beziehung ist ausgewiesen: Nach dem Besuch eines Schönberg-Konzerts entsteht 1911 die „Improvisation III”, die den Nebentitel „Das Konzert” führt. Indessen bleibt bei diesen Künstlerversuchen ein Sinnesbereich dominant: Wenn etwa bei Farben von „Dreiklang” gesprochen wird (Itten), hat die Optik Priorität; und wenn in der Musik die Melodie die muntere Forelle erkennen lässt, die Akustik.

Gue Schmidt dagegen will in seinem Projekt die Synästhesie im Gleichgewicht. Der Ton führt ins Bild, das Bild weckt den Ton. Die Wirklichkeit geht in zwei Sinnesqualitäten geichermassen auf, aber auf jeweils ganz andere Weise erregt.
Auf zwei Weisen sinnlich angesprochen, bilden sich Bedeutungskomplexe sozusagen in Tiefenstaffelung: Das In-der-Welt-sein auf einer Ebene wird zum Korrelat des In-der-Welt-seins auf einer anderen Ebene. Von der Genauigkeit der Korrelation hängt die subjektive Konsistenz unseres Weltverhältnisses ab. Leibniz gibt uns einen methodischen Hinweis: „Eine Sache drückt eine andere aus, wenn zwischen dem, was man von der einen, und dem, was man von der anderen aussagen kann, eine feste und regelmässige Beziehung besteht. In diesem Sinne drückt eine perspektivische Projektion das in ihr projizierte geometrische Gebilde aus”.
Die Projektion der Sinnesbereiche aufeinander lässt aus Umwelt erst Welt hervortreten. Der einzelne Sinn gibt situative Umwelt, die Koordination der Sinne gegenständliche Welt. Nicht irgendein immaterielles Wesen, sondern die Transparenz der sinnlichen Bedeutungsfelder aufeinander hin ist es, was das Wort „Geist” meint; so bei Plessner (s.o.), so schon bei Hegel. Die Synästhesie hat eine metaphysische Dimension.

2. Dionysos und Apollo
Es waren die grossen Physiologen des 19. Jahrhunderts, allen voran Hermann von Helmholtz, von denen die naturtheoretische und später die psychologische Erforschung der Sinnesorgane und ihrer Leistungen ausging. Nicht zu vergessen ist Gustav Theodor Fechner, der ebenso ein experimenteller Naturwissenschaftler und einer der Begründer der physiologischen Psychologie wie auch ein spätromantischer Philosoph war und auf liebenswürdigste, durchaus vorwissenschaftliche Weise die Synthesis von Sehen und Hören an den Anfang seiner philosophischen Reflexionen stellte. „Eines Morgens”, schreibt er, „sass ich im Leipziger Rosental auf einer Bank in der Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine
Lücke, welche das Gebüsch liess, auf die davor ausgebreitete schöne Wiese, um meine kranken Augen am Grün derselben zu erquicken. Die Sonne schien hell und warm, die Blumen schauten bunt und lustig aus dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin und her. Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgenkonzert drangen die Klänge an mein Ohr. So waren die Sinne beschäftigt und befriedigt. ... Für die Tagesansicht ist die Welt von Sehen durchleuchtet, von Hören durchtönt”.(4)

Zwölf Jahre nach Fechners wissenschaftlichem Hauptwerk „Elemente der Psychophysik” (1860) und sieben Jahre vor den „Tag- und Nachtansichten” erschien von einem jungen Altphilologen die zu seiner Zeit eher missfällig aufgenommene, später indessen epochemachende Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” (1872). Der Autor war Friedrich Nietzsche. Er erweiterte die sinnesphysiologische Betrachtung von Sehen und Hören zu einer ontologisch-anthropologischen Theorie der Welteinstellungen, aus der er tiefgreifende weltanschauliche Konsequenzen zog. Weit über den gesteckten Rahmen einer ästhetischen Untersuchung hinausgehend, hat er eine Grundlegung der ontologischen Gegenstandsrelation von ästhetischen Haltungen her unternommen und als erster die grossen gegensätzlichen „Welt-Anschauungen” auf eine unterschiedliche Anlage der Sinnesbereiche zurückgeführt. Damit hat er das Problem der Abhängigkeit des Realitätsbewusstseins von den die Realität vermittelnden Sinneserlebnissen aufgeworfen.
Nietzsche knüpft den Unterschied visueller und akustischer Erfahrung an zwei Gottheiten die die mythischen Träger gegensätzlicher Erfahrungskonfigurationen seien. Die Unterscheidung des Dionysischen und Apollinischen ist zunächst eine der ästhetischen Einstellungen. Aber die künstlerische Tätigkeit wird zu einem Paradigma der Weltauslegung überhaupt. Beide ästhetischen Erlebnisweisen sind ursprünglicher gefasst eben sinnliche Erlebnisweisen der Welt, in denen sich diese auf eine jeweils besondere Art erschliesst. Es geht darum, ob man die Welt nach aussen schauend von ihrer Gestalt oder nach innen schauend bzw. horchend von ihren Gefühlsqualitäten her erfährt. „An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht”.(5) Am deutlichsten wird der Gegensatz Apollinisch-Dionysisch in einem Nachlass-Aphorismus Nietzsches formuliert: „Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andererseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgebildet, nur schwächer: im Traum und im Rausch”.(6)
Der Ursprung des Bildnerischen liegt in der Erfahrung des Sichtbaren. Dass die Welt sich als Gestalt dem Menschen erschliesst, wird durch das Licht ermöglicht, in dem sie erscheint. Apollo „der seiner Wurzel nach der Scheinende, die Lichtgottheit ist”, wird zum mythischen Ausdruck für den Ursprung der Welt des Sichtbaren.

In andere Bereiche führt das Musikalische, in dem die Einsfühlung mit einem Sinn erlebt wird.(7) Dies ist das Reich des Dionysus, der dunklen, rauschhaften, erdnahen Gottheit, die eine Aufhebung des Gestalterlebens bewirkt. Dionysus ist – mythisch gesprochen – keine Gottheit, die dem Menschen die Begegnung mit der Welt ermöglicht, wie Apollo, sondern die ihn ergreift und besitzt. Die optisch-bildnerische (apollinische) Erfahrung lässt Welt als gegenständliche begegnen; die akustisch-musikalische (dionysische) hebt Welt in ihrer Eigenständigkeit auf und verschmilzt sie mit dem Subjekt. Visuell erfassen wir das innerweltlich Seiende als individuell gestaltetes, erscheinendes; musikalisch bleibt die äussere Erscheinung unbeachtet, und wir überlassen uns einem Fluss von Impressionen.

Nietzsche unterscheidet so das Visuelle und das Musikalische als gegenstandstheoretisch andersartige Ansätze der Begriffsbildung und damit der Einordnung von Welt in das intellektuelle System des Verstehens. Das Musikalische allein reicht jedoch zur Konstitution eigentlicher „Welthaftigkeit” nicht aus; es bedarf vielmehr der gestaltenden, bildnerischen Formung durch die Anschauung, die uns die Welt als „Gegenstand” gibt. Erst das in der Anschauung erscheinende Objekt kann zum Material unserer „Behandlung” werden, sodass sich die übergreifende Einheit von Subjekt und Objekt in der Praxis bildet.
Damit tritt eine Polarität von „Innen” und „Aussen”(8) zutage, die sich als Ausdruck der Sinnesbereiche von Hören und Sehen und in der künstlerischen Gestaltung als Dualität von musikalischem Stimmungsgrund und bildhaftem Erblicken manifestiert.

Nun gibt es kein „Innen” des Bewusstseins, das nicht durch die Vorgabe des von aussen kommenden Eindrucks erst gefüllt würde. Ohne die äussere Wirklichkeit, die sich in uns spiegelt und auf die wir handelnd reagieren, wäre unser „Innen” leer. Auch die Töne, die wir angesichts einer äusseren bildhaften Wirklichkeit assoziieren, produzieren wir nicht aus uns selbst, sondern verarbeiten sie aus dem zuvor gehörten Tonmaterial. Abgelöst von ihrem Ursprung als Signal aus der Aussenwelt, entlastet davon, situative Bedeutungen tragen zu müssen, können sie zum Bild als subjektive Empfindungsantwort hinzutreten. Sie fangen das Bild in einer „Befindlichkeit” auf. Im Gegenüber von Ton und Bild wird das Objekt mit dem Subjekt „vermittelt”. Die Beziehung der beiden Sinnesbereiche bleibt nicht eine additive Juxtaposition, sondern geht in eine dialektische Integration über. Die Aussagekraft dieser Konstruktion hängt dann davon ab, dass die formale Struktur, die den Akt der künstlerischen Imagination kennzeichnet, für andere inhaltlich nachvollziehbar als etwas Allgemeines angenommen wird. In der Akzeptanz der Assoziation des Künstlers erweist sich dessen Sensibilitat des Weltverhältnisses.

3. Sehendes Hören
Die technischen Möglichkeiten der Tonreproduktion haben heute die Möglichkeit geschaffen, die Zuordnung der sinnlichen Erfahrungen des Hörens und Sehens simultan zu vollziehen und die wechselseitige Repräsentation des einen Erlebens in dem anderen vorzunehmen. Was früher nur die Oper vermochte, für die das Bühnenbild ein unverzichtbarer Bestandteil ist, und was im Tanz zur gestischen Symbiose kommt(9), kann heute in mannigfachen Varianten der Kunstform „Installation” verwirklicht werden. Es ist, als ob astrale Konstellationen mit einem Sphärenklang verbunden wären; Goethe schwebte wohl eine solche Art Pythagoräismus vor, als er den „Faust” mit dem Engelchor beginnen liess: „Die Sonne tönt nach alter Weise” – das Licht des Sehens ist ein Hören.

Die technischen Medien waren im 20. Jahrhundert zunächst an die strikte Trennung von Hören und Sehen gebunden. Der Film begann als Stummfilm, und er verlor erst einmal an Qualität, als der Ton des gesprochenen Worts und der integrierten Musik hinzukam. Die Hörspiele des Rundfunks waren längst eine eigene Literaturgattung, ehe sie von den Fernsehspielen überrundet wurden. Dennoch zeigen gerade diese beiden Beispiele, dass die Isolation eines Sinnesbereichs nur eine Notlösung ist, wo der technischen Möglichkeit nach die beiden Hauptsinne ins Spiel gebracht werden können. Auch die Pantomime bleibt gegenüber dem Sprechtheater immer eine künstliche Beschränkung und wird eben wegen dieser Artifizialität geschätzt.

Allerdings geht es dabei meist um die hörbare Sprache, also den Transport nicht von Tönen als solchen, sondern von verbalisierten Bedeutungen. Den reinen, unbegrifflichen Ton als Reflexionsmedium einzusetzen, ist gewiss auch dadurch vorbereitet worden, dass in der Bildkunst die dinglich-gegenständliche Thematik durch die nichtdingliche reine Abstraktion ergänzt wurde, die im Rückgriff auf die Geometrie ihre Formprinzipien unabhängig von materiell-anschaulichen Vorgaben entwickelte. Ohne jede semantische Konnotation „hat der menschliche Geist im puren Element des optischen Modus nur die geometrische, im puren Element des akustischen Modus nur die musikalische Sinngebung entwickelt”.(10) Es gibt eine innere Übereinstimmung zwischen den Abstraktionsformen in bildender Kunst, Musik, Theorie (Konstruktivismus/ Strukturalismus) und gesellschaftlichen Organisationsformen, die die Einheit eines Epochenstils ausmachen.

Dass eine lnstallation wie „Hören ist Sehen” seit zehn Jahren rund um die Welt laufen kann, darf als ein Beweis genommen werden, dass das Konzept beim Kunstkonsumenten auf Widerhall gestossen ist. Dem Dingfetischismus der Objektkunst und der PopArt(11) und der asketischen Unsinnlichkeit der Konzeptkunst entgegen wird hier ein Reflexionsangebot gemacht, das aus der Sinnlichkeit gespeist wird und den Betrachter zu einer doppelten Anstrengung herausfordert: der Anstrengung, Ton und Bild emotional in Einklang zu bringen; und der Anstrengung des Begriffs, in der Anschauung das Denken zu sehen(12), also in der gegenseitigen Reflexion zweier Sinnesbereiche – im Hören sehend und im Sehen hörend – dem Logos der Dinge auf die Spur zu kommen.

Das Angebot wurde auch von den Theoretikern angenommen. Die Zahl derer, die sich reflektierend äusserten(13) ist erstaunlich gross. Die Beziehung zwischen der Kinetik des Tons(14) und der Statik des Bildes (das doch in einer Installation stets die Funktion des Standfotos haben wird) wirkt irritierend und beflügelt die theoretische Fantasie. Die mediale „Verzeitlichung” des Werks, auf die Burkhart Schmidt abhebt und die auf eine begriffliche Umsetzung gerichtete Intention, die eine Festlegung auf einen Sinn zum Ergebnis hat, müssen in ein hegelisch-dialektisches Verhältnis gebracht werden.
Poststrukturalistische Auflösung in Fluktuation würde den Mitteilungsgehalt zerstäuben, der im Anspruch des anschaulichen Denkens gemeint ist.

Mehr als 140 Künstler/innen beteiligen sich an dem Projekt. Das scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass wieder über die Verfassung und den Sinn der Wirklichkeit nachgedacht wird; dass es nicht mehr reicht, sich selbst zur Schau zu stellen oder ein Motorrad an die Wand zu hängen. Gewiss ist die Zusammenstellung von hundert individuellen Sinnesbegegnungen noch kein Gesamtkunstwerk. Ich könnte mir aber vorstellen, dass ein Künstler oder eine Künstlergruppe ein motivisch vielfältiges Thema als Gesamtzyklus behandelt – sozusagen die Stanzen des 21. Jahrhunderts – und dann auch zu einer nicht punktuellen, sondern systematischen gesellschaftskritischen Aussage kommt. Die Installation hat gegenüber der Flüchtigkeit von Video- und Fernsehsequenzen den Vorzug, eine bedachtsame Betrachtung zu gestatten. Das gibt ihr eine erkenntnistheoretische und kritische Nachhaltigkeit von gesellschaftspolitischer Relevanz.



Anmerkungen

(1) Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne, Gesammelte Schriften Band III, Frankfurt am Main 1980, S. 302.
(2) Vgl. den Katalog der Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk”, Zürich - Düsseldorf - Wien 1983. Allerdings ist der materialreiche Katalog mit kritischer Zurückhaltung zu nutzen, da er die vielfältigen Konzepte und Formen des Gesamtkunstwerks undifferenziert und ohne ideologische Charakterisierung vorstellt.
(3) Hans Heinz Holz, Strutture della Visualità, Milano/Varese 1984. Gegenüber dieser italienischen Ausgabe, die mit einem umfangreichen Abbildungsteil ausgestattet ist, beschränkt sich die deutsche Version, Strukturen der Darstellung, Bielefeld 1997 (Philosophische Theorie der bildenden Künste II) auf eine kleine Zahl Abbildungen.- Vgl. auch Hans Heinz Holz, Seins-formen. Über strengen Konstruktivismus in der Kunst, Bielefeld 2001.
(4) Gustav Theodor Fechner, Tages und Nachtansichten, 1879.
(5) Friedrich Nietzsche, Werke, ed. Karl Schlechta, München
(6) Ebd., Band III, S. 788.
(7) Den Terminus „Einsfühlung” übernehme ich von Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie 5.Aufl. Frankfurt am Main 1948, S. 15 ff u.ö. Scheler bezieht den Ausdruck ausschliesslich auf zwischenmenschliche Beziehungen, er lässt sich jedoch auch auf Zustände, auf die sich der Mensch bezieht, übertragen.
(8) Zum Verhältnis von Innen und Aussen als anthropologischer Struktur vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Gesammelte Schriften, a.a.O., Band IV. - Hans Heinz Holz, Mensch - Natur, Bielefeld 2003.- Ontologische Grundlegung: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 11, Hamburg 1978/1992, S. 364 ff.
(9) Oper und Tanz unterwarfen allerdings das notwendig präsente Element des Sichtbaren dem Primat der Gefühlsevokation, gehören also eher zu der „dionysischen” Seite des Gesamtkunstwerks.
(10) Helmuth Plessner, die Einheit der Sinne, a.a.O., S. 296.
(11) Vgl. dazu Hans Heinz Holz, Vom Kunstwerk zur Ware, Neuwied und Berlin 1972.- Ders., Der Zerfall der Bedeutungen (Philosophische Theorie der bildenden Künste III), Bielefeld 1997, S. 193 ff.
(12) Der Kunsttheoretiker Rudolf Arnheim hat den Terminus „Anschauliches Denken” eingeführt und begründet: Anschauliches Denken,
Köln 1973. An ihn anknüpfend, wesentlich von den Material- und Werkerfahrungen des Bildhauers ausgehend, hat Jürgen Weber diesen Denkansatz fortgeführt: Gestalt, Bewegung, Farbe. Kunst und anschauliches Denken, Braunschweig 1975. Dazu Hans Heinz Holz, Rezension zu Weber, in: Tendenzen Jg. 17, 1976, Heft 106, S. 56 ff.
(13) Siehe Katalog zur Ausstellung Hören ist Sehen, Wien 2002.
(14) Für Tonsequenzen analysiert Edmund Husserl das Verhältnis zur Konstitution von Zeit und Zeitlichkeit: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Halle 1928.

Hans Heinz Holz